Raus gerissen
Als er mir entgegenkam, wusste ich, ich kenne ihn. Nicht nur, dass mir sein Gesicht bekannt vorkam, ich wusste auch, woher wir uns kannten und was er beruflich macht. Beste Voraussetzungen also, dass ich mich auch an seinen Namen hätte erinnern können. Konnte ich aber nicht.
Während er näher kam – er hatte mich längst gesehen und steuerte unbeirrbar auch mich zu – wägte ich noch kurz ab: Weiter am Namen überlegen oder die Flucht nach vorn antreten? Ich erkannte, dass mir sein Name in den wenigen Sekunden bis zu unserem Zusammentreffen unmöglich noch einfallen würde und beschloss „Plan B“ zu aktivieren.
„Bevor es peinlich für mich wird: Ich kenne Sie, ich weiß, wer Sie sind und was Sie tun, aber Ihr Name will mir partout nicht einfallen“, hörte ich mich sagen. Mein Gegenüber – keine Spur von Verärgerung -, stellte sich freundlich lächelnd erneut vor, begrüßte mich – zu meinem Entsetzen – mit meinem Namen und entschuldigte sich zugleich dafür: „Das müssen Sie mir jetzt nachsehen, dass ich Ihren Namen wusste“, erläuterte er. „Eigentlich kann auch ich mir keine Namen merken. Nur bei Ihnen ist das anders…“
Unnötig zu erwähnen, dass ich mir den Rest des Tages den Kopf darüber zerbrochen habe, ob er tatsächlich die gleiche Namensschwäche hat, wie ich, oder ob er mir mein Versagen ihm gegenüber nur relativieren wollte. Ich gab erst auf, als mich abends die Brotfachverkäuferin in unserer Bäckerei, die mich schon lange und sogar mit Namen kennt, ansprach: „Hallo junger Mann, was darf’s heute denn sein?“
‚Nichts‘, dachte ich, denn meine Welt war plötzlich wieder in Ordnung. Sie litt offenbar – wie ich – am Namensverlust. Und das Kompliment, das riss den Tag dann raus.