Schrotig-schrullig
Und dann war da noch die Familie Lehmann aus Chemnitz, die wir morgens beim Frühstück in unserer Pension trafen. Nette Leute, gut situiert, würde man sagen. Er ein pensionierter Maschinenbau-Ingenieur, sie eine ehemalige Krankenschwester. Beide gemeinsam der Musik und den Bergen verfallen, ein Paar auf Lebenszeit und eben aus Chemnitz.
Über den Verlauf dieses einzigen gemeinsamen Frühstücks wurden wir vieles von Familie Lehmann aus Chemnitz gewahr: Dass die beiden schon viele Urlaube in dem kleinen bayerischen Ort am Fuße der Zugspitze verbracht hatten und – so sie es denn könnten -, dass sie gerne noch oft wieder her kommen wollen würden; zu schön sei es hier, zu lange habe man darauf gewartet in die Alpen fahren zu können. Und natürlich erhielten wir Empfehlungen, was wir uns denn im und ums Dorf herum unbedingt noch anschauen müssten und wohin wir auf jeden Fall noch aufsteigen sollten, „nicht, dass Sie noch etwas verpassen“, wie es hieß. Wir hörten geduldig Tipp um Tipp, und das ging immer so:
Sie: „Helmut, erzähl doch mal, wie wir damals zur Alm am Wank aufgestiegen sind, das war doch so schön“, worauf hin Helmut stets entgegnete: „Ach‘, Hildegard, das interessiert die jungen Leute doch nicht“, um dann doch ingenieuresk-akkurat zu berichten und wichtige Punkte seiner Schilderung – wie mit einem imaginären Textmarker hervorgehoben – zu wiederholen. Anschließend lobte Hildegard ihren Helmut und schaute ob der schönen Erinnerungen versonnen drein, jedoch nicht ohne gleich die nächste Geschichte bei Helmut abzurufen, im dem Sie wieder begann: „Helmut, wie war das denn noch an den kleinen Wasserfällen, wo Dir Deine neue Trinkflasche verloren gegangen ist“, worauf Helmut wiederum zunächst abwehrte, dass uns gerade diese Anekdote nun wirklich nicht begeistern könne, um dann doch mit einer ausführlichen und detailreichen Schilderung der Geschehnisse aufzuwarten.
Einige wirklich liebe und nette Geschichten später bedankten wir uns bei der Familie Lehmann aus Chemnitz für das gemeinsame Frühstück und die angenehme Unterhaltung und gingen zurück zu unserem Zimmer. Als uns die Lehmanns auf Chemnitz dann außer Hörweite wähnten, sagte Hildegard streng zu Helmut: „Dass Du wieder so viele Geschichten erzählen musstest…! Das hat die jungen Leute doch nun wirklich nicht interessiert!“
Liebe Familie Lehmann in Chemnitz, Ihre Geschichten waren nicht nur eine willkommene Frühstücksunterhaltung, sondern der Beweis, dass gemeinsame Interessen und ein langer, gemeinsamer Lebensweg zwar zu schrotig-schrulligem Umgang miteinander führen kann, andererseits aber durchaus auch eine erstrebenswerte Perspektive auf ein Leben nach der Arbeit sein könnte. Vielleicht sitzen wir ja dann mal auf der anderen Seite des Frühstückstischs und erzählen von dem, was wir zwischenzeitlich erlebt haben.
Aber womögllich interessiert das die jungen Leute dann gar nicht…?
(Anm.: Die „Lehmanns aus Chemnitz“ hießen mitnichten „Lehmann“ und kamen auch nicht aus Chemnitz. Aber so ähnlich.)